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elisastreuli

Ein Ayurveda in Kerala

Aktualisiert: 6. Juni 2023



Meine Reise beginnt mit einem Aufenthalt in einem Ayurveda-Zentrum in der Nähe von Trivandrum. Von Ayurveda hatte ich bisher nur gehört, dass es gesund sei, aber dass die Behandlungen schmerzen und die obligatorischen Getränke morgens auf leeren Magen scheusslich schmecken. Trotzdem möchte ich es ausprobieren. Der der Süden von Indien ist der ideale Ort dafür. Ayurveda, «das Wissen vom Leben», ist eine ganzheitliche Gesundheitslehre, die auf der altindischen Philosophie basiert. Das kann sehr rigide und mit einem langen Verbotskatalog ausgelegt werden, aber auch als 5-Sterne-Wellnesshotel, bei welchen Ayurveda vor allem ein Verkaufsargument für europäische Tourist:innen ist.


Im Bundesstaat Kerala gibt es über 100 Ayurveda-Resorts. Ich war nur in einem, deshalb heisst der Titel dieses Blogs auch nicht «Ayurveda in Kerala», sondern «Ein Ayurveda in Kerala». Die Adresse habe ich über eine Arbeitskollegin von einer indisch-deutschen Therapeutin in Zürich erhalten, die hier ihre Ausbildung absolvierte. Wie ich auf der Homepage erfahre, wird das Haus von einer Familie mit einer 69 Generationen alten Ayurvedatradition geführt. Früher wurde die Lehre nur in der männlichen Linie mündlich und hauptsächlich in Gesängen überliefert. Zum ersten Mal wurde dieses Wissen in der Familie vom Gründer des Zentrums auch auf seine Tochter übertragen, die nun - neben dem Vater als Besitzer - zusammen mit ihrem Bruder das Geschäft führt. Im Zentrum arbeiten ausschliesslich Einheimische. Aus diesen beiden Gründen habe ich mich schliesslich für diesen Ort entschieden.



Am Flughafen in Trivandrum holt mich der Fahrer ab. Autos, TukTuks sowie unzählige Motorräder (ohne Helmpflicht) brausen scheinbar kreuz und quer durch die Fahrbahn. Auf einem Schild unten an der Rückseite eines Busses steht «Keep Distance» - was in Fall des dahinterfahrenden TukTuks höchstens 5 cm Abstand bedeutet...


In einem «Top-Don’ts»-Youtube-Video über Indien habe ich erfahren, dass das ständige Hupen nicht bedeutet «du nervst, geh aus dem Weg!», sondern etwas wie «Hallo, da bin ich – schön bist du auch da!» So gesehen werden wir permanent freudig begrüsst.

Nach einer halben Stunde kommen wir im Ayurveda-Resort mit mehreren kleinen Häusern sowie einem kleinen Tempel und einem grossen Garten an.




www.treatmenthouse.de


Gleich nach meiner Ankunft werde ich von der Geschäftsführerin (s. Bild oben) zur Konsultation bei offener Türe (nebenan werden gerade die neusten Bundesligaresultate diskutiert) und anschliessend zur Fussmassage gebeten. Die Fussmassage ist nicht eine Massage der Füsse, sondern mit den Füssen, bei der mich gleichzeitig zwei Personen mit je einem Fuss von den Schultern bis zu den Zehen durchwalken und sich für ihr Gleichgewicht und die Kraftdosierung an einem Seil halten. So kurz nach der Ankunft ist es ein ziemlicher Kaltstart, trotz dem warmen Öl. Aus dem Behandlungsraum der Männer ist ein paarmal ein Schrei zu hören, und einige haben noch Tage später blaue und/oder rote Flecken.


Die Gäste – insgesamt rund 20 – sind fast alle aus Deutschland und waren schon mehrmals hier. Gut zwei Drittel sind Frauen, knapp ein Drittel sind Männer, und viele kennen sich bereits von einem früheren Aufenthalt. Einige kommen zur Erholung, zum Abnehmen, oder um mit dem Rauchen aufzuhören; andere sind in einer belastenden Lebenssituation oder haben eine Krankheit, welche die Schulmedizin nicht heilen konnte.

Ohne Deutsch wäre ich hier ziemlich aufgeschmissen, denn die vielen impliziten und wenigen expliziten Regeln hier im Resort werden durch die Gäste und nicht durch die Familie weitergegeben. So gibt es keine Einweisung zu Beginn, keine schriftliche Hausordnung und auch keine Speisekarte. Ein Gast hätte beinahe seine erste Morgenbehandlung verpasst, weil er nicht wusste, wo er sich über die Zeit informieren konnte.

Das Morgenessen ist «à la carte ohne Karte». Nur von der Beobachtung der anderen würde es viel zu lange dauern, um sich einen Überblick über die vielen Möglichkeiten zu verschaffen: Es gibt frische Früchte aus der hauseigenen Farm; Pfannkuchen, Gemüseomelette, Porridge, Birchermüesli, gebratene Eier, Lassi, usw. usf. sowie auch indisches Frühstück. Mittags und abends essen wir indisch plus (nicht ayurvedisch im engeren Sinn) Salat. Die beiden freundlichen Köche bereiten individuell auch etwas anderes für uns zu, wenn wir danach fragen. Nur Fleisch, Alkohol und Kristallzucker gibt es nicht, und auch Rauchen ist tabu.






Im Gegensatz zum frei wählbaren Essen sind die Behandlungen klar vorgegeben. Alle Gäste erhalten vormittags eine Behandlung von einer guten Stunde. Die Therapie sieht eine bestimmte Standard-Reihenfolge vor, doch die Art, Intensität und Anzahl der einzelnen Behandlungen werden auf jede Person laufend individuell abgestimmt.

In der ersten Zeit erhalte ich eine Kräuterstempelmassage. Mit mehreren Lappen, die mit Kräutern gefüllt zu einem Kissen gebunden und in sehr warmem Öl getränkt sind, werde ich von zwei Masseurinnen kraftvoll massiert und gestempelt. In der Choreografie dieses Ablaufs massieren die beiden Frauen gleichzeitig links und rechts, für zwei kurze Spezialbehandlungssequenzen von jeweils etwa 5 Minuten kommen zwei Personen aus der Familie dazu. Der Zentrumsgründer lernte ausschliesslich durch Überlieferung; die Mitglieder der nachfolgenden Generation absolvierten zusätzlich eine fünfeinhalbjährige universitäre Ausbildung in Ayurveda-Therapie inklusive Praktikum in einem Spital.

Während der Behandlung plaudern die Masseurinnen (s. Bild unten) angeregt in Malayam, dem hiesigen Dialekt miteinander – ob sie sich über Privates austauschen oder sich über die Tourist:innen mit ihren Eigenheiten lustig machen? Wenn wir ihre Sprache verstehen würden, sprächen sie bestimmt über etwas anderes…




Auf der Terrasse liegen aufwendig gestaltete Fotoalben von den Hochzeiten der beiden Geschäftsführenden mit ihren jeweiligen Ehepartner:innen. Sie erzählen, dass ihre Ehen arrangiert wurden, was in höheren Kasten in Indien offenbar weiterhin verbreitet ist. In meiner bisherigen Vorstellung davon sehen Braut und Bräutigam bei der Hochzeit erstmals, wen ihre Eltern für sie ausgesucht haben; das trifft aber heute kaum mehr zu. Eher handelt es sich bei der arrangierten Heirat um ein zweistufiges Verfahren, bei dem die Eltern (ähnlich wie bei der Rekrutierung das HR) eine Auswahl von mehreren potenziellen Kandidat:innen vornehmen und die Kinder unter diesen eine Entscheidung treffen. Manchmal wird dazu eine Heiratsvermittlerin zu Hilfe geholt und das Horoskop konsultiert, wie ich am Abend bis tief in die Nacht aus der mehrteiligen Netflix-Doku «Indian Matchmaking» erfahre.


Jeden Nachmittag gibt es eine freiwillige Yogalektion. Ich konnte dem Yoga bisher nicht viel abgewinnen, aber dieses ist genau auf Anfängerinnen wie mich abgestimmt. Der Yogalehrer versteht es, mit seiner gelassen-zufriedenen Ausstrahlung eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Wenn wir gar zu angestrengt dreinblicken, bittet er uns zu lächeln...



Nach dem Yoga spazieren wir ein einer kleinen Gruppe eine Runde in der nahen Umgebung. Ausser den Gästen des Resorts gibt es keine Ausländer:innen in diesem Dorf, und so bleiben viele Einheimische interessiert stehen. Mir gehen tausend Fragen durch den Kopf: Dürfen wir die Menschen fotografieren oder nicht? In Zermatt oder auf dem Säntis käme es ja niemandem in den Sinn, wildfremde Einheimische zu fotografieren, womöglich noch mit der Bitte, die Swatch in die Kamera zu halten und zum Schein in ein Stück Toblerone zu beissen. – Hier sehen die Menschen unsere Handys und schauen uns mit dem typischen «Nickschütteln» (eine Art liegende-Acht-Bewegung des Kopfes, die ja, nein oder weiss nicht bedeuten kann) erwartungsvoll an. Würde es sie im Gegenteil enttäuschen, wenn wir nur die Landschaft, nicht aber die Menschen fotografieren und ihnen damit auch eine Bedeutung geben? Mir geht durch den Kopf, dass man bekanntlich nicht nicht kommunizieren kann. Um ein bisschen mit Einheimischen im Dorf ins Gespräch zu kommen, kaufen wir jeden Tag etwas kleines im gleichen Laden ein.

Bei einem Spaziergang begegnen wir zufällig einer unserer Masseurinnen, die uns gleich zur Tanzschule ihrer Tochter mitnimmt und wir bei einer Tanzlektion zuschauen dürfen.





Nach den Tagen mit Kräuterstempel folgen ein paar Tage Behandlung mit warmem Wasser. Zuvor haben die Masseurinnen literweise Wasser in grossen Töpfen angeschleppt, um es im Behandlungsraum zu erhitzen. Zuerst werde ich mit Öl eingerieben und anschliessend wie ein Blumenbeet mit warmem Wasser begossen – auf und ab, gleichzeitig links und rechts. Zeitweise sind fünf Einheimische gleichzeitig im Raum, die sich um mein Wohl kümmern: Zwei massieren, zwei begiessen und jemand achtet auf die richtige Wassertemperatur. Die Temperatur ist nahe an der Grenze der Erträglichkeit. Ein Gast bemerkt nachher schweissgebadet, wenigstens sei er jetzt «the hottest man in town».






Es dauert fast eine Woche, bis ich die sechs Masseurinnen auseinanderhalten und mit ihrem Namen ansprechen kann, was sie aber sehr freut. Die Behandlungszeit dauert täglich von 6 Uhr bis 13:15 und ist körperliche Schwerarbeit. Wie alle dabei (und trotz den vermutlich nicht immer pflegeleichten Gästen) immer herzlich und aufmerksam bleiben, ist mir ein Rätsel. Auf Auf Englisch können wir uns ein bisschen verständigen. Die meisten Angestellten arbeiten schon viele Jahre her. Eine von ihnen ist mit dem Kräuterkoch verheiratet (s. Bild oben), und von einer Masseurin anderen hat bereits die Mutter hier gearbeitet. Auf meine Frage, was sie tun, wenn sie Schmerzen haben, lachen sie laut und lange, als hätte ich soeben die Millionen-Frage gestellt. Eine Selbstmassage der Hände! Für gegenseitige Behandlungen haben sie keine Zeit, da nach der Arbeit im Zentrum gleich ihre Arbeit zuhause beginnt.


Während Corona war das Zentrum zwei Jahre lang weitgehend geschlossen. In dieser Zeit wurde niemand entlassen und der Lohn wurde von der Familie mit dem Geld bezahlt, das ursprünglich für ein zweites Zentrum vorgesehen war.




Ungefähr in der Mitte des Aufenthalts erhalte ich den «Goldenen Löffel». Das ist eine gründliche Darmreinigung mit (sehr verkürzt) allem was dazugehört.

Nach diesem Tag erhalte ich Behandlungen mit Kissen, die mit Reismehl gefüllt sind; mit diesen Kissen wird auch das Gesicht massiert. Eine weitere Art der Therapie ist der Stirnguss mit kühler Buttermilch zur Behandlung des Gehirns. Den Grund, weshalb wer genau welche Therapie erhält, erfahren wir nicht – vermutlich deshalb, weil wir untereinander sonst viel zu viel darüber diskutieren würden, statt die Wirkungen einfach im Körper zu erfahren.




Abends zeigen die «dienstälteren» Kolleginnen den Neuen, was sie in der Stadt an Kleidern, Stoffen und Decken eingekauft haben und in die lokale Schneiderei bringen. Nach dem «Goldenen Löffel» darf auch ich nachmittags nach Belieben an den Strand oder in die Stadt. Ein spezielles Erlebnis ist ein Bootsausflug in die Backwaters – mitten durch eine urwaldähnliche Flusslandschaft. Als wir auf einer Sandbank eine kurze Pause machen, werden wir sofort von Einheimischen umringt, um mit uns ein Foto zu machen.

Auch ein Ausflug zur nahen Kovalam-Beach mit ausgiebigem Shoppen, Flanieren und Tschai Trinken darf natürlich nicht fehlen. Hier sehen wir auch, wie die Räucherstäbchen mit Pulver und Honig zu einem feinen Teig geknetet und anschliessend an einem dünnen Bambusstab gedreht werden. Die Rückfahrt mit dem TukTuk in der Rush-Hour nach dem Motto ‘es geht noch lauter und noch dichter aneinander vorbei’ – zu allem Übel ist noch die eine Strassenhälfte für eine religiöse Prozession gesperrt – ist wiederum eine Meisterleistung des Taxifahrers…







Meistens verbringe ich aber die Zeit am Nachmittag in Ruhe auf dem Balkon. Mir gefällt es hier sehr gut, doch anscheinend gab es auch Gäste, die mehr Wellness und Komfort erwartet hatten und vorzeitig wieder abreisten.



Nach zweieinhalb Wochen und einer abschliessenden Fussmassage wird es Zeit, Adressen auszutauschen und sich von der Familie, den Angestellten und den anderen Gästen zu verabschieden.

Vielleicht war ich nicht zum letzten Mal hier, doch nun folgt die nächste Station, um derentwillen ich ursprünglich nach Indien gekommen bin. Schön war's und danke für alles.




485 Ansichten8 Kommentare

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8 Comments


Monica Byland
Monica Byland
Mar 12, 2023

Liebe Elisa, ich musste so lachen über Deine Beschreibung. Konnte mir lebhaft vorstellen wie Du mit Deiner aufmerksamen freundlichen Art Kontakt aufnimmst mit den MasseurInnen. Wie Du ernsthaft nachfragst. Mein Indienaufenthalt zu den Gasteltern von Hannas damaligem Aufenthalt in Bengalore ist immer noch offen. Wird wohl nach meiner Pensionierung passieren.... Jetzt lese ich Deinen Blog und reise innerlich mit. Danke Monica

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susannesigner
Mar 05, 2023

Liebe Elisa

Nach meiner Rückkehr aus Neuseeland habe ich deinen Ayurveda-Bericht mit Interesse gelesen. Ich freue mich auf die weiteren Folgen. Ich wünsche dir weiterhin einen spannenden Ausfenthalt in Indien.

Susanne

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scla
Mar 02, 2023

Vielen Dank liebe Elisa für den persönlichen Einblick - das klingt nach einem guten Start! Alles Gute und herzliche Grüsse, Ladina

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Steffi Neumann
Steffi Neumann
Feb 19, 2023

So wunderbar, dass du uns an deinen Erfahrungen teilhaben lässt. herzlichen Dank und weiterhin alles Gute aus der kalten Schweiz ☺️

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Tjefa Wegener
Tjefa Wegener
Feb 14, 2023

Liebe Elisa, so toll, dass du einen Blog machst. Ich habe gerade an dich gedacht und mir gewünscht ein paar Fotos zu sehen, von dem was du machst und bäm, hier ist dein Blog. Danke dir! Ich freu mich auf den nächsten Eintrag. Und wünsche dir weiterhin eine gute Zeit in Indien!

Tjefa

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