Danke für Eure Rückmeldungen, die mich wieder sehr gefreut haben. In diesem Blog erzähle ich Euch etwas mehr über die Organisation und den Ursprung der Schule.
Ein Schuljahr in Shanti Bhavan hat drei Trimester. Das 1. Trimester im Jahr dauert vom 8. Januar bis zum 16. April. Während dieser Zeit leben die Kinder und die Angestellten auf dem Schulgelände. Schule, Essen, Schlafen, Freizeit spielt sich während den 14 Wochen ausschliesslich hier ab. Die Organisation hat neben der Schule eine eigene Küche, betreute Gemeinschaftsschlafräume und eine eigene Spitalstation.
Das Management und die Angestellten schlafen auf dem Gelände, wir Freiwilligen ebenfalls in einem eigenen Guesthouse, wo wir uns die bestehenden Räume teilen. Die Mädchen und Buben schlafen entsprechend ihrer Schulstufe in Schlafsälen, jeweils betreut von 1-2 «Aunties», welche rund um die Uhr bei den Kindern sind. Im Schulgebäude sind die Klassenzimmer auf zwei Stockwerken um einen grossen Innenhof herum angeordnet, ohne Türen, so dass jederzeit jemand hineinkommen, hinausgehen oder auch einfach mal vorbeischauen kann – was für Kinder, Lehrpersonen und uns Freiwillige eine ziemliche Herausforderung an die Konzentration stellt. Dafür sind die Gebäude solarbeheizt (während hinter dem Haus Abfall verbrannt wird) und das Schulgebäude ist angenehm kühl.
Während dem Semester können die Kinder und Jugendlichen das abgeriegelte und bewachte Gelände nicht verlassen. Sogar zum Impfen kommt eine Fachperson an die Schule. Die einzige Ausnahme bildet ein Nachmittag, an dem sie zur Zahnkorrektur gefahren werden und ein Grossteil der Teenager eine Zahnspange erhalten.
Für die Angestellten und Freiwilligen ist das Gelände zwar ebenfalls abgeriegelt, doch können wir uns jeweils auf Voranmeldung einen Fahrer reservieren, der uns ins nächste Dorf oder nach Bangalore (2h Fahrzeit) fährt. Ein kurzer Ausflug am Abend in ein Restaurant, eine Ausfahrt mit dem Velo oder ein Spaziergang ausserhalb des Geländes sind auch für uns aus Sicherheitsgründen (obwohl hier weit und breit niemand wohnt) nicht erlaubt.
Die Abgeschlossenheit ist für jüngere Lehrer:innen eine ziemliche Einschränkung ihres Soziallebens. Viele bleiben deshalb nur ein Jahr. Es gibt unter den Lehrpersonen Alleinerziehende und Paare mit einem Kind an der Schule, welche ebenfalls hier wohnen und länger hier sind. Von uns Freiwilligen nutzen vor allem die Jüngeren die Gelegenheit, über das Wochenende nach Bangalore zu fahren. Die indischen Lehrpersonen beschränken den Ausgang auf einen Nachmittag in der Woche zum Einkaufen. Die restliche Zeit des Wochenendes ist bei ihnen ohnehin für das Kleider(berge)waschen - von Hand gründlich einseifen, ausspülen, auswringen, wieder ausspülen - und Putzen reserviert.
Auch ich nutze das Wochenende gerne, um in der nächsten Stadt zusammen mit anderen Freiwilligen wieder einmal eine Pizza zu essen und frisches Obst einzukaufen. Abgesehen davon ist eine indische Stadt – bzw. die Überquerung einer Strasse – nur für Lebensmüde zu empfehlen, zumal es keine Ampeln oder Fussgängerstreifen gibt, ein permanenter Verkehr herrscht, allseitig laut gehupt wird und der Vortritt nicht gegeben, sondern genommen werden muss.
Damit wir sehen, wie die Kinder zu Hause leben, dürfen wir Freiwilligen an einem Nachmittag das nahe gelegene Dorf besuchen. Die Schule verköstigt 2000 Menschen in den nahegelegenen Dörfern, hat eine eigene Farm und gibt den Frauen Mikrokredite, damit sie sich ein kleines wettersicheres Haus leisten können. Wir freuen uns, dass wir einen Einblick erhalten, sind uns allerdings nicht ganz sicher, ob sich die Bewohner:innen über unser Interesse freuen oder den Besuch eher als voyeuristischen Armutstourismus empfinden, zumal wir uns ja sprachlich nicht verständigen können.
Die Entscheidungen, die an der Schule getroffen werden, liegen vor allem beim Gründer – inzwischen 76-jährig -, der in den USA ein grosses Vermögen erwirtschaftete, aber schon immer wieder nach Indien zurückkehren und eine Schule aufbauen wollte. Sein Ziel ist nicht primär die Armutsbekämpfung, sondern der (erhoffte) Multiplikationseffekt, welcher von den ausgebildeten Kindern ausgehen soll, welche ihrer Gemeinschaft etwas zurückgeben und wiederum dafür sorgen, dass ihre Familie und ihr Umfeld aus der Armut herausfinden und sich engagieren. Deshalb ist es der Schule wichtig, dass die Kinder studieren und nicht nur eine Grundausbildung erhalten.
Die Schule war anfänglich ausschliesslich privat vom Gründer finanziert. 2008 verlor er aufgrund von Fehlentscheidungen fast sein gesamtes Kapital und stand davor, die Schule ganz zu schliessen. Mehr aus der Not heraus, aber bestimmt nachhaltiger, wurde die Schule anschliessend finanziell breiter abgestützt und ist nun hauptsächlich spendenfinanziert (30% Firmen und 70% Privatpersonen, vor allem aus den USA und Kanada). Wenn Besucher:innen kommen, wird nochmals alles geputzt, die Bettwäsche gewechselt, die Computer abgestaubt, die Pulte zurechtgerückt, die Kinder ziehen bessere Kleider an und der Tagesablauf wird dem Besuch angepasst. Für die Betreuerinnen ist dies jedesmal eine Riesenarbeit, die vermutlich gar nicht immer bemerkt wird. In seinem Buch aus den Anfängen legte der Gründer noch Wert darauf, dass die Besuchenden einen unverfälschten Einblick in den Schulalltag bekommen sollen – doch mit den Sozialen Medien und der Notwendigkeit der Spendenbeschaffung wird nun offensichtlich sehr darauf geachtet, welchen Eindruck die Schule nach aussen vermittelt.
Aus gesundheitlichen Gründen hatten wir Freiwilligen erst einmal die Gelegenheit, mit dem Gründer ausführlich zu sprechen und von seinem Werdegang und dem Aufbau der Schule entgegen allen staatlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Widerständen zu erfahren. Die Skepsis gegenüber der Organisation war anfänglich gross: Der Staat, der nicht einsah, dass für Kinder aus den untersten Einkommensschichten eine eigene Schule gegründet werden sollte und auch die Eltern, welche in der Schule eine Tarnung für Organhandel von Kindern vermuteten. Dementsprechend hat die Schule Ende der 1990er Jahre ganz klein begonnen und ist inzwischen auf 250 Kinder angewachsen, und 2024 wird eine zweite Schule eröffnet. Nicht alles, aber doch sehr viel ist der unermüdlichen Schaffenskraft des charismatischen Gründers zu verdanken, wo ich mich frage, wie dieses unerschütterliche Engagement über so lange Zeit überhaupt möglich ist. Eine derart umfassende Fürsorge für die Kinder hat auch die Kehrseite einer ebenso totalen Kontrolle – oder zumindest den Versuch der Kontrolle – zur Folge. Wir Freiwilligen empfinden diese Kontrolle als übertrieben, während eine Betreuerin, mit der ich mich regelmässig austausche, immer wieder betont, wieviel mehr Freiheiten als an öffentlichen Schulen die Kinder hätten.
Der Gründer nennt die Kinder seine Familie (er spricht immer von den Kindern, nie von Schülerinnen oder Studierenden) und entscheidet beispielsweise auch, wer in den Ferien nach Hause geht und wer nicht. Allerdings werden allfällige Entscheidungen gegen die Familie nicht leichtfertig getroffen; bei häuslicher Gewalt wird aber das Kindeswohl klar über den Wunsch der Familie gestellt.
Während Covid wurde die Schule zunächst geschlossen und die Kinder nach Hause geschickt, doch als sich auf den Strassen riesige Menschenschlangen bildeten, die auf das Essen warteten, dass die Kinder kaum ernährt werden konnten und weder geimpft noch getestet wurden, holte der Gründer die Kinder alle wieder zurück.
Anweisungen des Gründers werden vom Management-Team und von den indischen Lehrpersonen niemals in Frage gestellt. Vorschläge zur Verbesserung der Organisation sind nur ansatzweise möglich. Auch wenn es vermessen wäre, in den 2 Monaten eine Organisation zu beraten, welche seit 27 Jahren existiert, hätte ich hier gerne auch als Sparringpartnerin für Organisationsfragen oder als Moderatorin von Fallbearbeitungen gearbeitet. Diese Rolle existiert in dieser Organisation nicht. Ich hoffe, dass ich im Juni bei der NGO im Norden mehr in diese Richtung tun kann.
Für viele Kinder ist die Beziehung zur Familie ambivalent (wobei ich nur wenig darüber erfahre und wir auch die Schüler:innen nicht aktiv danach fragen). Eine Jugendliche sagte mir an einem Tag, sie wolle in den Ferien gar nicht heim, am nächsten jedoch, wie sehr sie sich freue, ihre Familie wieder zu sehen, vor allem auch ihre kleinen Nichten und Neffen. Bei den jüngeren Kindern hatte ich viel Heimweh und Weinen erwartet, doch bemerke ich davon nichts; sie machen einen zufriedenen Eindruck – wobei wir auch hier nicht nachfragen.
Der Unterschied zwischen zuhause und Schule ist sehr gross, wie auch die Kinder in ihren Aufsätzen schreiben – zuhause haben sie viele Freiheiten, können Fernsehen und Ausschlafen, in der Schule stehen sie um 6h auf (am Wochenende um 7h) und sind den ganzen Tag neben dem Unterricht noch mit Community-Service (Küchendienst, Gartenarbeit, Putzen, Besen aus Kokosblättern herstellen u.a.) und Kleider waschen beschäftigt.
Aus Prinzip haben Mädchen und Knaben an der Schule genau die gleichen Aufgaben – überhaupt wird das Gleichheitsgebot an der Schule sehr hochgehalten: Wenn jemand etwas bekommen soll, dann alle andern auch – oder gar nicht. Dies hat zur Folge, dass die Schule kaum wettbewerbsorientiert ist und für schwache Schüler:innen zusätzlich individuelle Hilfe anbietet, aber besonders Begabte nicht speziell fördert. Dies ist für mich erstaunlich, zumal die Organisation ja das Ziel einer gesellschaftlichen Transformation («to break the cycle of poverty») verfolgt. Anderseits aber wachsen die Kinder dadurch in einem sehr stabilen Klassenverband auf und können ein langfristiges gegenseitiges Vertrauen aufbauen.
Neben den schulischen Fächern sind dem Gründer eine humanistische Grundhaltung und Wertevermittlung ebenso wichtig. Die Kinder bereits mit 4 Jahren an die Schule, damit sie eine möglichst umfassende, ganzheitliche Sozialisation erhalten. Die Vermittlung von Respekt, Demut, Selbstdisziplin und vielen andere Tugenden sind ein fester Bestandteil im Tagesablauf. Jeden Tag liest ein Kind aus der 2. Klasse eine Tugend vor, welche anschliessend im Plenum diskutiert wird (wobei aber keine kritische Reflexion stattfindet über Widersprüche zwischen dem Gesagten und dem Gelebten oder darüber, inwiefern Tugenden auch übertrieben werden können). Die Kinder haben eine grosse Freude, wenn sie die die «Virtues» lesen dürfen und üben am Vortag so lange, bis sie den Text fehlerfrei vortragen können.
Die Kinder haben keine Handys und Computer dürfen nur unter Aufsicht benützt werden. Das Internet ist zum Recherchieren von Nachrichten und Themen für das Public Speaking reserviert. Auch wenn der Sohn des Gründers und COO von Shanti Bhavan Lead Designer der D&D-Game-Anthologie "A Journey to the Radiant Circle" ist, werden an der Schule die Rubikcubes eingezogen und Gamen ist nicht erlaubt. Die Kinder kommen nicht oder kaum mit sozialen Medien in Kontakt (sie finden immer auch kleine Schlupflöcher) und sind von äusseren Einflüssen weitgehend abgeschirmt. So gibt es hier keine Online-Sucht, anderseits lernen sie auch nicht, sich damit auseinanderzusetzen.
Der Einfluss und der Schutz der Organisation für die Kinder bleiben über ihren Aufenthalt hinaus bestehen: Nach dem Abschluss kümmert sich eine ehemalige Freiwillige um die Eingewöhnung ins Leben an einem College oder einer Universität. Sie ist Ansprechperson für die Schulabgänger:innen. Deren grosse Sorge, wie sie sich in einer fremden Welt bewegen und verhalten sollen, wird dadurch zu einem guten Teil aufgefangen.
Gegen Ende des Semesters streichen die Schüler:innen an der Tafel die Tage ab, bis sie nach Hause gehen können – wobei dies vermutlich für alle etwas völlig anderes bedeutet, und bei manchen ein oder beide Elternteile nicht mehr leben. Der ganz kleine Beitrag von uns Freiwilligen an die Ausbildung und ans Wohlergehen der Kinder endet am Eingangstor mit dem letzten Tag des Semesters. Was von unserem Aufenthalt bleibt, werden wir vermutlich nie erfahren, auch wenn das natürlich schön wäre.
An das scharfe indische Essen werde ich mich wahrscheinlich nicht gewöhnen und das Zimmer mit jemandem vorher Unbekannten teilen ist für mich etwas völlig Neues – dafür ist es immer sonnig und es gibt täglich so viele spannende Einblicke und Begegnungen, dass ich darüber hinaus (grummelnd) sogar die schlechte Internetverbindung in Kauf nehme – in ein paar Monaten soll diese eingerichtet sein.
Vielen Dank für Euer Interesse! Im nächsten Blog berichte ich Euch darüber, wie mein Tagesablauf hier aussieht.
Liebe Elisa, Danke für deinen super spannenden Bericht! Auch wenn ich natürlich die Gerüche, die Geräusche, die Hektik nicht nachempfinden kann, so habe ich doch das Gefühl, dir über die Schulter zu gucken bei deinen Beobachtungen. Es ist sicherlich eine unglaubliche Erfahrung, in diesen Alltag eingebunden zu sein. Wenn ich bedenke, welche Freiheiten Kinder trotz hoher schulische Ansprüche hier in der Schweiz geniessen, kann ich mir kaum vorstellen, wie junge Kinder mit vier Jahren diese Disziplin aushalten und sogar schätzen lernen. Sicherlich könnten wir auf beiden Seiten viel lernen, was Sozialisation, Bildung, gesellschaftliche Verantwortung und Nachhaltigkeit angeht. Ich freue mich schon sehr auf die nächsten Beitrag ☺️
Liebe Grüsse, Steffi
Liebe Elisa
Danke für die eindrückliche Berichtestattung - ich bewundere, wie Du Dich in ein so geschlossenes System eingeben kannst. Das wäre nichts für mich! Mich erstaunt (oder ich habe es falsch verstanden), dass es keine Wirkungskontrolle gibt im Sinn, wie sich die "Kinder" nach Verlassen der Schule weiterentwickeln, ob sie die vermittelten Werte in der "richtigen" Welt aufrechterhalten können und wie sie mit der social media- und Game-Welt-Realtität umgehen können. Ich freue mich schon auf den Einblick!
Herzlich, Gabi
Liebe Elisa
Deinen Bericht habe ich mit Freunde gelesen. Sehe immer alles bildlich und sehr farbig vor mit viel Sonnenschein. Was bleibt sind sicher sehr schöne und wertvolle Erinnerungen, beidseitig. Du gibst viel und du bekommst viel. Wer weiss vielleicht entwickeln sich Freundschaften die lange weiter nach deinem Aufenthalt nachklingen.
Ich wünsche dir weitere schöne Momente und Erfahrungen und bis zu einem anderen mal.
Liebe Grüsse
Eliana
Liebe Elisa, herzlichen Dank - einmal mehr - dass du uns an deinem so andersartigen Leben teilhaben lässt. Danke für deine Eindrücke, deine Gedanken und Fragen, welche durch die Art der Schule und die Organisation der Abläufe auftauchen. Und das alles, obwohl Freizeit und Privatshäre drastisch eingeschränkt sind, im Vergleich zu den selbstverständlichen Freiräumen hier.
Ich bin sicher, eine solches Engagement, die Erlebnisse und tiefen Eindrücke verändern einem und relativieren vieles, was man zuvor für unabdingbar gehalten hat, während anderes umso klarer wichtig wird. In diesem Sinne auch Danke, dass wir uns durch deine Berichte auch ein klein wenig mitverändern und unsere Ansichten „erweitern“ können.
Herzliche Grüsse und alles Liebe, Inés