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Shanti Bhavan, Teil 2: Der Alltag


Der Tag beginnt für mich kurz nach 5h morgens – wobei das (wie ja überhaupt mein ganzer Aufenthalt) absolut freiwillig ist. Ich bin nicht die einzige: Viele Betreuerinnen nutzen die frühe Morgenstunde für ein Speedwalken, und mir gibt es die Gelegenheit, mich mit einer von ihnen regelmässig auszutauschen, leider aufgrund der Sprache nur sehr limitiert. Sie hat zwei Söhne im Alter von 10 und 9 Jahren. Der Ältere ist hier an unserer Schule, der jüngere ist in einer staatlichen Boarding School. Er darf nicht in Shanti Bhavan unterrichtet werden, da der grösstmögliche Multiplikationseffekt auf die Umgebung und nicht das Fortkommen und Wohlergehen der einzelnen Familie im Vordergrund steht. Gesellschaftlich kann ich das nachvollziehen, für das jüngere Kind und auch für die Mutter ist es natürlich hart.



Um 6h wischen die Kinder das Gelände, um 6:30 beginnt für uns die Aufsicht von Frühsport oder Hausaufgaben und nach dem Frühstück beginnt um 8:30 der Unterricht.

Der Tagesablauf ist im Prinzip klar geregelt und in der konkreten Ausführung sehr flexibel. Zwar gibt es genaue Zeiten, in denen der Unterricht stattfindet, aber die eigentliche Unterrichtszeit wird immer wieder unterbrochen durch Kinder, die den Bleistift vergessen haben oder Wasser trinken gehen oder zu irgendwelchen Aktivitäten gerufen werden. So wird meine anfängliche Befürchtung, dass die Kinder eigentlich kaum Freizeit haben, weil sie von morgens bis abends entweder Schule, beaufsichtigte Aufgabenzeit oder ausserschulische Pflichten haben, ziemlich relativiert.




Ich unterrichte oder beaufsichtige die Kinder etwa 5-6 Stunden am Tag, wobei wir viel Teamteaching haben und die Stunden innerhalb des Klassenzimmers ziemlich frei gestalten können (bzw. sind es vor allem die Kinder, durch die sich der Unterrichtsverlauf gestaltet).

In der Mitte des Vormittags ist jeweils eine Plenarversammlung in der Halle. Hier berichten die Kinder ausgewählte Neuigkeiten aus der ganzen Welt und singen im Chor. Der Musikunterricht ist das beliebteste Fach, auch dank der wunderbaren kolumbianischen Musiklehrerin, und einige berichten, dass sie erst durch den Gesang überhaupt zu ihrer Stimme gefunden haben. Jeden Tag darf ein Kind aus der 2. Klasse jeweils die Tugenden vorlesen. Dies gibt den jüngeren Kindern eine Plattform, in der sie sich bereits als 8-jährige vor 300 Leute stellen können und ihnen auch ältere zuhören. Ausserhalb des offiziellen Unterrichts bleiben kurze Zeitfenster für die selbstorganisierte Freizeit.



Da zwischen den Lektionen sonst keine Pausen sind, verlagern die Kinder die Pause in den Unterricht, der dadurch ziemlich lebhaft verläuft. Es ist schwierig zu sagen, ob eine Verhaltensweise kulturell, altersbedingt oder individuell ist, doch hier habe ich den Eindruck, dass die Interaktion zwischen Kindern und Lehrpersonen im allgemeinen sehr intensiv ist (Kann ich einen Kugelschreiber haben? Können wir einen Film mit Ronaldo schauen? Warum nicht? Gibt es Schokolade, wenn wir alles richtig haben? Der Film ist langweilig, können wir etwas anderes schauen – einen Film mit Neymar? u.a.m.).

Wir versuchen, den Unterricht so interessant und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten - was nicht immer, aber manchmal ganz gut gelingt.



Einzelne Kinder sind besorgt, wenn sie vermuten, dass wir traurig oder unzufrieden sind. Eine Viertklässlerin meinte einmal, die Lehrpersonen und Freiwilligen sollten einfach immer happy sein, dann seien sie es auch - und steckt mir an diesem Abend ein Caramelbonobon zu.


Ganz allgemein fällt mir eine grosse ungefragte Hilfsbereitschaft auf, die manchmal auch in eine übergriffige Ungeduld ausartet. Das ist aber nicht auf die Kinder in dieser Schule beschränkt: Bei einem Samstagsausflug in die Stadt war ich im Begriff Geld abzuheben, als plötzlich ein Mann in die Kabine kam, mir bei der Eingabe zusah und kurzerhand meine Transaktion abbrach, weil ich seiner Meinung nach einen 4-stelligen und nicht einen 6-stelligen Pin-Code für die Kreditkarte eingeben sollte. Zwar hatte ich zu keiner Zeit Angst, dass er mich bestehlen wollte, doch reagiere ich seither ziemlich ungehalten, wenn die Kinder ungefragt mein Handy oder meinen Computer anfassen.


Gleichzeitig versuchen wir uns natürlich so gut es geht der Kultur anzupassen und leihen uns sogar für einen Tag einen Sari aus.



In der 1-stündigen Mittagspause gibt es eine vollwertige indische Mahlzeit (Scharf? Nein gar nicht! Wie bitte??), anschliessend ist wieder Unterricht bis zur Nachmittagspause um 15:30. Anschliessend ist Sport, aufräumen, baden, Hausaufgaben und individuelle Hilfe und «Public Speaking» - jeweils 4 halten eine Rede von ca. 3’ mit Feedback -, dann ist Abendessen mit Gutenachtgeschichte für die Jüngeren; Studierzeit und Nachrichten schauen und diskutieren für die älteren. Hinterher bin ich ziemlich fix und fertig – nur selten reicht es noch für einen Film(anfang) oder ein paar Buchseiten.

Die Hauptfächer werden von indischen Lehrkräften unterrichtet, wir Freiwilligen sind für die Nebenfächer und für Englisch zuständig.

Am Wochenende waschen die Kinder ihre Kleider und fertigen Besen aus Bambusblättern an. Das Highlight der Woche ist jeweils der Samstagabend mit Heimkino.



In diesem Semester sind wir jeweils etwa 8 Freiwillige. Alle sind sehr gut qualifiziert, viele haben mehrjährige Unterrichtserfahrung. Ein 60-Jähriger ist aus den USA ausgewandert und sucht nun im NGO-Bereich ein Betätigungsfeld. Er wird nach den Ferien wieder zurückkommen und weiterhin als Freiwilliger arbeiten. Die anderen sind jeweils zwischen 3 Wochen und 3 Monaten hier - zum Beispiel die Engländerin und ehemalige Lehrerin, die in Genf wohnt und einen erfolgreichen Englisch-Grammatik-Blog betreibt, die Geschichtsdidaktikerin aus Deutschland, die neben Kinderbüchern und einer Politikerbiografie die Nazi-Vergangenheit ihres Wohnorts in Bayern aufgearbeitet hat, meine weniger als halb so alte «Roommate» aus Südafrika, die sieben Jahre in China unterrichtete, oder die Uni-Abgängerin, die nach ihrem Aufenthalt in New York im Investmentbanking arbeiten wird.



Wir sind alle sehr unterschiedlich, doch verstehen wir uns glücklicherweise gut und helfen einander aus, wenn jemand krank ist oder ein verlängertes Wochenende machen möchte. Mit den indischen Lehrpersonen teilen wir den Staff-Room und essen am gleichen Tisch, so dass eigentlich immer ein Austausch stattfindet, mit einigen mehr, mit andern weniger.

Die Organisation von uns Freiwilligen übernimmt eine OSA (Onsite-Administrator), mit einem 7x24-Stunden-Job, zumal die Stelle der akademischen Administration vakant geblieben ist und wir jeweils erst allmählich etwas über den Lehrplan und die Lehrmittel erfahren. Vieles ist ad hoc oder wird erst im Nachhinein klar. So wurde das Semerster-Schlussexamen meines Kollegen nachträglich für ungültig erklärt, weil es nicht auf dem richtigen Formular war, das ab der 9. Stufe obligatorisch ist – wobei er nie eine diesbezügliche Information erhalten hatte.



An einem Wochenende treffen wir ein paar ehemalige Schulabgänger:innen zum Lunch und anschliessendem Bowling. Sie sind sehr dankbar, für die Karrieremöglichkeiten, welche sie ohne die Schule nie gehabt hätten. Bisher sind es 150 Schulabgänger:innen. Die Organisation bezahlt ihnen weiterhin ihre Studiengebühren und den Lebensunterhalt, bis zum Abschluss des College. Nachher sorgt die Organisation mit ihren Verbindungen mit verschiedenen Firmen dafür, dass alle Schulabgänger:innen einen qualifizierten ersten Job bekommen. Ab dann sollen sie 100 weiteren Personen aus ihrer Community helfen. Die meisten Absolvent:innen sind Mitglied der schuleigenen Alumni-Vereinigung und treffen sich regelmässig oder tauschen sich virtuell aus. Eine Freiwillige hält den Kontakt zu ihnen aufrecht, trifft sie ab und zu und hilft ihnen bei Fragen und Schwierigkeiten.


Die Begegnung mit den Ehemaligen zeigt mir, dass die Schule für viele eine grosse Wirkung hat. Übereinstimmend berichten sie, dass sie ohne die Schule niemals da wären, wo sie heute stehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich mit jedem Mittel zu diesem Ziel einverstanden bin. Allerdings kann die Schule nur sehr eingeschränkt auf das Individuum eingehen. Kleinklassen, Heilpädagogik, Schulpsycholog:innen usw. usf. – all das steht dieser Schule nicht zur Verfügung. Immerhin erhalten einzelne Nachhilfeunterricht, wenn sie mit dem Stoff Mühe haben. Verhaltensauffälligkeiten müssen jedoch im Klassenverband irgendwie aufgefangen werden. Einige Kinder berichten von sich aus in einem geschützten Rahmen ausserhalb des Unterrichts – z.B. kürzlich sehr beiläufig und nüchtern beim Vorlesen der Pinoccio-Geschichte – von Alkoholismus und Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter zuhause. Wo bei uns längst eine Gefährdungsmeldung gemacht würde, ist es hier die Schule, welche die Kinder im Extremfall in den Ferien nicht nach Hause gehen lässt. Die häusliche Gewalt ist leider sehr verbreitet. Dennoch machen diese Kinder auf mich äusserlich einen erstaunlich munteren Eindruck. Ich werte dies als enorme Anspassungsleistung, welche die Kinder zwischen den beiden gegensätzlichen Welten tagtäglich erbringen und die ihnen später hilft, sich in den unterschiedlichsten Umgebungen zurechtzufinden.




Anders als in «normalen» Schulen kann nicht mit den Eltern auch nicht über die Lernfortschritte gesprochen werden, da die Eltern selbst kaum eine Bildung genossen haben. Neben der Erziehung wird auch die Gesundheitsversorgung durch die Schule übernommen. Das schuleigene Spital mit vier Fachpersonen steht auch den umliegenden Dörfern zur Verfügung.



Die Vorstellung, dass alles mit intrinsischer Motivation, d.h. der Aussicht auf einen guten Job in 5 oder 10 Jahren funktioniert, ist nicht nur morgens um 6h oder abends um 21h illusorisch. Damit die Institution als Ganzes funktioniert, muss erwünschtes Verhalten nachdrücklich eingefordert und abweichendes Verhalten notfalls bestraft werden. Um Schwangerschaften zu vermeiden, ist gegengeschlechtlicher Körperkontakt strengstens untersagt – und das in einer Institution, in welcher alle zwar nicht in den gleichen Gebäuden, aber doch auf dem gleichen Gelände zusammenleben. Das sind einige von unzähligen Schwierigkeiten, mit denen die Schule tagtäglich konfrontiert ist. Ich habe eine Hochachtung vor der Aufgabe, dass die Schule all diese Herausforderungen irgendwie meistert und ihr Ruf permanent auf dem Spiel steht, falls irgendetwas passieren sollte. Leider wird mit den Kindern nicht auf Augenhöhe gesprochen – sie werden belehrt, was zu tun ist und bestraft, wenn sie sich nicht danach verhalten. Das führt dazu, dass uns die Kinder nicht die Wahrheit sagen oder sich gegenseitig beschuldigen, um selbst keine Strafe zu erhalten.


Hier ist es den Lehrpersonen verboten zu schlagen – ich schreibe dies, weil mir die Kinder einstimmig berichteten, dass in den Schulen ihrer Geschwister die Kinder mit Stecken und Lineal geschlagen werden. Anderseits setzt die Schule auf Beschämung als Mittel zur Verhaltensänderung und lässt fehlbare Jugendliche stundenlang in der Halle stehen – was für mich sehr fragwürdig ist und mich nachhaltig beschäftigt. Die indischen Lehrpersonen und auch die älteren Schüler:innen rechtfertigen diese Massnahmen vehement, weil sie eine wichtige Lektion erteilen würden und mildere Formen nichts nützen würden.




Am letzten Wochenende vor dem Semesterende ist Ostern. Der Tag beginnt frühmorgens mit einem Fussballturnier, bei dem zuerst die Mädchen, dann die Jungen aus den höheren Klassen spielen und die jüngeren sowie Angestellte, Freiwillige und auch der Gründer und seine Frau zuschauen. Am Nachmittag gibt es Zuckereier, auf welche sich die Kinder die ganze Woche gefreut hatten.


Am vorletzten Abend sind wir Freiwilligen vom Gründerehepaar zum Nachtessen eingeladen und werden ausgezeichnet vom schuleigenen Küchenpersonal bewirtet. Es ist ein gemütlicher Abend, doch kann ich es nicht lassen, ein paar kritische Fragen zu stellen - was mir nachträglich leid tut. Bestimmt ist es äusserst unhöflich, nach einem wunderbaren Essen und zwei Tage vor der Abreise die Arbeit von Menschen zu hinterfragen, die seit 27 Jahren rundum die Uhr für eine ganzheitliche Erziehung und Gesundheit der Kinder zuständig sind und dabei unglaublich viel erreicht haben.



Mein Aufenthalt geht demnächst zu Ende. Die Kinder und die Angestellten freuen sich auf die Ferien, und wir Freiwilligen sind müde von den anstrengenden Tagen und den vielen Eindrücken, die wir nun erstmals einsortieren möchten. Gleichzeitig sind wir dankbar für die vielen Erfahrungen und Begegnungen und den kleinen Beitrag, den wir hier leisten durften. Bald werden Kinder werden von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen abgeholt. Ich kann nur hoffen, dass alle ihre Kindheit unter den schwierigen Umständen auch dank der Schule einigermassen gut überstehen.







153 Ansichten5 Kommentare

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5 Comments


dorothee.schaffner
dorothee.schaffner
May 05, 2023

liebe Elisa herzlichen Dank für den tollen Blog, und dein kritisch, wertschätzendes Rumführen durch den Alltag der Schule. Das klingt auch ganz schön bereichernd, aber auch anstrengend, herzlichen Gruss Dorothee

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lavabue
May 01, 2023

Liebe Elisa

Wiedermal wunderbar dein Bericht. Es ist auch schön zu hören, dass doch Neuigkeiten aus der grossen weiten Welt in dieser geschlossener Schule durchdringen. Das glaube ich dir aufs Wort, dass du manchmal fix und fertig bist. Übrigens der Sari steht dir gut😀

Auf deiner nächsten Station wünsche dir viel Erfolg gespickt mit vielen spannenden Eindrücken und schöne Bilder. Ich freue mich auf deinen weiteren Blog.

Liebe Grüsse

Eliana


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sami
Apr 17, 2023

Liebe Elisa, so schön, eindrücklich und berührend ist dein Blog, trotzdem freue ich mich dann auch sehr auf den mündlichen Bericht! Aber erstmal bin ich noch auf deine nächsten "Stationen" gespannt, herzliche Grüsse, Mirjam

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Steffi Neumann
Steffi Neumann
Apr 17, 2023

Liebe Elisa, auch ich finde schön, dass Du diesmal auch auf Fotos zu sehen bist! Ich wünsche Dir für den Abschluss dieser Erfahrung und den Start in die nächste alles Gute. What's up next 😉?

Lieber Gruss, Steffi

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gabi.maechler
Apr 16, 2023

Wiederum sehr eindrücklich, liebe Elisa - ich habe fast das Gefühl, mit dabei zu sein. Ich hätte Dich auf dem ersten Foto mit dem Sari fast nicht erkannt.... Du siehst sehr entspannt und geerdet aus.

Vielen Dank für's Teilen! Gabi

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