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elisastreuli

Was können wir in der Führung von Menschen und Organisationen von Indien lernen?

Aktualisiert: 11. Juli 2023

Auf Spurensuche mit Swissnex in Bangalore



Die Frage scheint zunächst sehr abwegig: Können wir überhaupt etwas von Indien lernen, wo doch bei uns alles besser ist?

Das möchte ich in Bangalore herausfinden. Bangalore ist die Hauptstadt des Staates Karnataka im Süden von Indien und wird auch als das «Silicon Valley» Indiens bezeichnet. Dieser Name stammt noch aus den 1990er Jahren, als die Informatik von Schweizer Firmen zunehmend nach Indien ausgelagert wurde.

Inzwischen könnte man Bangalore sogar als die «Keimzelle der Innovation» bezeichnen – wobei ich mich nun mit dieser These weit zum Fenster hinauslehne.


Weshalb gerade Indien?

Zunächst erlebe ich die indischen Strassen als hektisch, lärmig, schmutzig, die Leute als unzuverlässig, faul oder nur gerade das Nötigste machend, fordernd und übergriffig. Alkoholismus und häusliche Gewalt sowie die Abtreibung von Mädchen sind in ländlichen Regionen allgegenwärtig und in den Städten gibt es Stelleninserate, die nur für Frauen oder nur für Männer ausgeschrieben sind. Der indische Staat legt den gemeinnützigen Nichtregierungsorganisationen permanent Steine in den Weg; von einem Visum für Freiwilligenarbeit wurde mir abgeraten (zu kompliziert), aber wenn eine NGO mit der Beschäftigung von Freiwilligen mit einem Tourismusvisum erwischt wird, riskiert sie eine Busse oder sogar die Schliessung. Indien lag 2022 auf Platz 85 des weltweiten Korruptionsindex (Dänemark auf Platz 1, Somalia Platz 180, die Schweiz auf Platz 7).


Und hier sollen Innovationen entstehen? Wie können Führung und Zusammenarbeit unter den genannten Bedingungen überhaupt gelingen? Und was treibt Unternehmerinnen an?



Ohne die offenkundigen Probleme auszublenden möchte ich diese Fragen unbefangen untersuchen. Dies hat mir grosszügigerweise die ZHAW zusammen mit Swissnex ermöglicht. Swissnex ist eine Organisation der Schweiz an verschiedenen Standorten auf der Welt, die Menschen in Universitäten und Unternehmen miteinander verbindet. Mein Aufenthalt bei Swissnex Bangalore ist verbunden mit der Aufgabe, auf meine Untersuchungsfrage ein paar schlüssige Antworten oder zumindest anregende Hypothesen nach Hause zu bringen. Dazu möchte ich möglichst unterschiedlichen Führungspersonen, Unternehmerinnen und Beratende befragen.


Bereits am Flughafen von Bangalore komme ich mit einer indischen Familie ins Gespräch. Ich frage die 14-jährige Tochter, ob sie bereits Berufspläne habe. Ohne zu zögern und mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit antwortet sie, ja, sie wolle ein Unternehmen gründen. Sie habe schon immer gerne gekocht und möchte später ihr eigenes Hotel führen. Ich bin erst mal baff über diese unaufgeregte Klarheit, begleitet von einem wohlwollenden und leicht verlegenen, indientypischen Kopfnickschütteln der Eltern.


Im Swissnex-Büro werde ich sehr herzlich empfangen und fühle mich sofort willkommen. Die Swissnex-Mitarbeitenden sind alle auch selbst Expertinnen im Gebiet der interkulturellen Führung und Zusammenarbeit, und die Gespräche mit ihnen geben mir bereits einen sehr guten Einstieg. Dank ihren Kontakten, mit eigenen Recherchen und auch durch zufällige Begegnungen erschliesst sich allmählich ein Stück des unglaublich vielfarbigen und vielfältigen Mosaik der indischen Startup-Welt.


Da sind zum Beispiel – neben vielen anderen – Freeda, Tanul und Swapnil. Sie alle haben vor einigen Jahren, zusammen mit anderen oder alleine, ein Unternehmen gegründet.



Freeda führt ein Backunternehmen für personalisierte Cookies. Sie stellt ausschliesslich ungelernte Frauen aus lokalen Gemeinschaften ein, lernt sie an, bildet sie aus bis zur Perfektion für höchste Ansprüche. Dabei stiess sie zu Beginn auf diverse Hürden: Ihre Mitarbeitenden haben eine Menge an häuslichen Pflichten, welche für den Ehemann an erster Stelle kommen. Will sie diese Frauen beschäftigen, muss sie ihren Arbeitsplan an diese Gegebenheiten anpassen. Freeda kann und will sich nicht in die häusliche Arbeitsteilung einmischen, deshalb ist Flexibilität für sie als Unternehmerin zentral:

So beginnt die Produktion erst um 11h, dauert aber dafür bis in den Abend. Indem sie die Frauen anständig bezahlt und die ganze Familie in einer Krankenkasse versichert, bietet sie auch den Männern einen Anreiz, den Frauen die Arbeit zu erlauben. Die Mitarbeiterinnen sind dankbar für die Lern- und Arbeitsmöglichkeiten, die ihnen auch ein Stück finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen.



Weder Freeda noch sonst jemand im Unternehmen ist ausgebildete Bäcker-Konditorin. Doch ihr Unternehmen beweist, dass Menschen mit Disziplin und Lernwillen, dazu mit unablässiger Übung viel erreichen können. Eine von ihren Mitarbeitenden meinte kürzlich, sie hätte nie geglaubt, dass sie selbst zu solchen Leistungen fähig wäre. Und Freeda ist überzeugt, dass Erfolg weder durch Talent noch durch Glück noch durch eine zufällige Gelegenheit entsteht, sondern einzig mit Üben und Dranbleiben ("practice and perseverance"). Auch gute Führung will täglich gelernt sein. Als ich Freeda nach ihrem Motto frage, sagt sie: Übe es, die Führungsperson zu sein, die Du sein möchtest!


Dabei ist für sie nicht einfach, das Umfeld ihrer Mitarbeiterinnen wirklich zu verstehen. Sie selbst und ihre Bekannten kommen aus einem ganz anderen Milieu, deshalb kann sie sich dort auch keinen Rat holen. So lernt sie durch Zuhören einen sinnvollen Weg zu finden und wo nötig auch klare Grenzen zu setzen. Ebenfalls schwierig empfindet sie das Bild von einer Backstube, wo Produkte und Menschen einfach süss zu sein haben - eine Backstube ist ein hartes Geschäft, dessen Erfolg jeden Tag von neuem erarbeitet werden muss und viel spezialisiertes Wissen und technische Fertigkeiten erfordert.



Mich beeindrucken neben dem klaren Wissen um ihre eigenen Grenzen Freedas Natürlichkeit und ansteckende Fröhlichkeit. Trotz der langen Arbeitstage, die frühmorgens beginnen und erst lange nach Feierabend der Mitarbeitendenden aufhören, scheint ihre Energie unerschöpflich. Cookies bringen Glück in die Welt, davon ist Freeda fest überzeugt. Ein Blick auf ihre Backwaren genügt, um das sofort zu unterschreiben. Für einen an Demenz erkrankten Mann fertigten ihre Mitarbeitenden Cookies mit Fotos aus seinem Leben an – und plötzlich konnte er sich wieder an vieles erinnern.



Tanuls Firma Afthonia Lab fördert Startups, indem sie ihnen ein Netzwerk an Organisationen, Geldgebenden sowie rechtlicher und arbeitspsychologischer Unterstützung erschliesst und sie auf ihrem Weg begleitet. Der grösste Stolperstein auf dem Weg zum Erfolg sei in der Regel nicht das Geld, sondern die Egos: «Wenn Du den Kampf um das Ego gewinnst, verlierst Du den Kampf der Organisation im Unternehmens­umfeld.» Gründende von Startups hätten meist das Gefühl, dass die Arbeit getan sei, nachdem das Geld überwiesen wurde. Dass die Arbeit erst dann beginnt und Wille, Ausdauer, Geduld und Resilienz erfordert, ist vielen nicht bekannt oder sie wollen es nicht wahrhaben.



Unternehmerin sein bedeutet für sie, permanent Ambiguitäten - ein Sowohl-als auch - auszuhalten und auszuhandeln: Leidenschaftlich zu sein und trotzdem klar zu denken; zu reflektieren und dann auch zu handeln; sich im Beruf voll einsetzen und auch für sich selbst zu sorgen; auf das Umfeld zu hören und der inneren Stimme zu folgen; sich an den Erfolgen zu freuen und immer wieder von neuem von Misserfolgen zu lernen.


Auf meine Kernfrage, was wir von Indien lernen können, antwortet sie, dass durch die Sozialisation in Indien der Umgang mit Unvorhergesehenem in der kulturellen DNA verankert sei. Inderinnen seien hyperwachsam, d.h. immer sehr aufmerksam für das was kommt und kommen könnte – und damit einen produktiven Umgang zu finden.

Am wichtigsten für sie als Unternehmerin ist die emotionale Regulation – mit Bedacht zu antworten statt unwillkürlich zu reagieren (response rather than react). Mit Tanul kann ich nur über Zoom sprechen, doch ich lerne viel von ihrer differenzierten Betrachtungsweise.


Das College von Swapnil hatte vor 8 Jahren plötzlich kein Wasser mehr. Dies brachte ihn und seinen Studienfreund dazu, etwas gegen das generelle Problem der Wasserknappheit in Indien zu unternehmen. Daraus entstand die Firma Uravu Labs, welche Wasser zu 100% aus der Luft gewinnt. Vor zwei Jahren waren sie noch zu viert, mittlerweile sind es 120 Mitarbeitende und in den kommenden Monaten wird sich die Firma nochmals fast verdoppeln. Dies ist in Indien möglich, weil hier sowohl Land als auch Personal vergleichsweise günstig sind. Mittlerweile produziert Uravu Labs 3000 Liter Wasser aus Luft pro Tag und wird voraussichtlich in zwei Jahren profitabel sein.


Eine Geschichte in Bildern zeigt den Werdegang der Firma an der Wand und gibt der Halle eine inspirierende Leichtigkeit, wie auch der witzige an StarWars angelehnte Kurzfilm zur Firma https://www.instagram.com/reel/Cr0kDWPKvZt/?utm_source=ig_web_button_share_sheet



Das Team ist sehr jung und die allermeisten sind noch ledig. D.h. die Herausforderung für Mitarbeitende und Führung, familiäre Verpflichtungen mit der Arbeit zu verbinden, steht erst noch an. Die Leute mit den erforderlichen Qualifikationen werden mit dem Myers-Briggs-Persönlichkeitstest den passenden Stellen zugeteilt. Der Test dient dabei nicht als Einstellungsinstrument, sondern als Mittel, wie die unterschiedlichen Persönlichkeiten an der richtigen Stelle möglichst gut arbeiten können.



Da Uravu Labs eine Stunde ausserhalb von Bangalore liegt, holt ein firmeneigener Bus die Mitarbeitenden morgens zuhause ab und bringt sie abends wieder zurück. Die Firma organisiert auch das Essen, wobei einerseits grosser Wert auf gesunde Mahlzeiten gelegt und anderseits versucht wird, die unterschiedlichen Vorlieben der Mitarbeitenden zu berücksichtigen. Für die Produktentwicklung ist es Swapnil wichtig, Demut zu bewahren und nicht zu denken, er wisse schon alles, obwohl er seit Anfang dabei ist. Immer wieder erlebt er, wie neue Leute Ideen einbringen, an die er gar nicht gedacht hatte.



Sein Motto ist – bei aller spielerischen Freude an seiner Tätigkeit: Die Arbeit ist nicht getan, bis sie getan ist (the job is not done till it’s done). Das tönt nun ziemlich trivial, aber ich denke seither oft daran, wenn ich nach 80% bereits mit einer Aufgabe aufhören möchte.

Wenn die Führung trotz des schwindelerregenden Wachstums die Beziehung zu den Mitarbeitenden weiterhin so umsichtig pflegt und ihre Mischung aus technologischem Wissen, Kunst und Humor behält, wird Uravu Labs sehr erfolgreich werden.




Was können wir nun von Indien für die Führung von Menschen und Organisationen lernen?


Ein Schweizer erzählt mir, er habe Schlafstörungen bekommen, weil er die terminlichen Verpflichtungen gegenüber seinen Auftraggebenden aus der Schweiz in Indien unmöglich einhalten könne. Ich kann seine Nöte gut verstehen: Persönlich bin ich sehr dankbar für alles, was in der Schweiz scheinbar so selbstverständlich funktioniert. Doch wenn zukünftig die Welt unsicherer und unplanbarer wird und völlig unvorhergesehene Ereignisse «normal» werden, dann ist Indien darauf bereits vorbereitet.


Ich versuche meine Ausgangsfrage mit den folgenden 7 Thesen zu beantworten:


1.

Als erstes springt die fast unglaubliche Anpassungsfähigkeit an ganz unterschiedliche und schnell wechselnde Umstände ins Auge. Dass irgendjemand im selbstmörderischen Strassenverkehr heil von einem Ort zum anderen kommt, ist mir immer noch ein Rätsel. Ebenso, wie Unternehmen trotz vorhandener, aber nicht angesprochener Korruption profitabel sein können. Die Hyperwachsamkeit, von der Tanul berichtet, führt dazu, dass sich die Leute laufend auf eine neue Ausgangslage einstellen und von dort für den nächsten Schritt die optimale Lösung finden. Dazu gehört auch die Resilienz – die Fähigkeit, trotz Widrigkeiten immer wieder aufzustehen. Oder wie Freeda sagt: Die Leute sind resilient, ohne es zu wissen.


2.

Ein zweiter Punkt ist die Hospitality, was im Businesskontext am ehesten damit übersetzt werden kann, dass gute Beziehungen wichtig sind. Wenn mir Inderinnen von ihren Geschäften berichten, dann erzählen sie meist von den Freundschaften, die dabei entstanden sind. Ein Textilproduzent ist oft in Deutschland unterwegs. Als ich ihn frage, wie er die Geschäfte erlebe, rühmt er zuerst die deutsche Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Anschliessend berichtet er ratlos, dass in Deutschland jeweils um 17h die Arbeitsbeziehung zuende sei – dabei würde sie in Indien erst anfangen, nämlich dass man zusammen ausgehe und wenn möglich auch die Familien dazu mitkommen. Er erzählt dies bei einem Mittagessen an einem Sonntag, bei dem tatsächlich auch die beiden erwachsenen Kinder dabei sind.


3.

Ein dritter und wohl entscheidender Punkt ist das «Gesetz der grossen Zahl». Indien ist seit Ende April offiziell das bevölkerungsreichste Land der Welt. Darauf sind die Menschen hier sehr stolz. Damit begründen sie auch, dass die Auswahl an sehr gut ausgebildeten und passenden Leuten für jede noch so spezialisierte Aufgabe sehr gross ist. Auch wenn in den Schulen viel Wert auf blosses Wiedergeben des Gelernten gelegt wird und in den Prüfungen die exakt gleichen Fragen wie in der Vorbereitung gestellt werden, gibt es immer noch genügend Menschen, welche hochkomplexe Probleme eigenständig lösen können. Und wenn viele keinen Ehrgeiz haben: Auch da gibt es genug, die so hochmotiviert, hart und smart arbeiten wie die drei oben vorgestellten Unternehmerinnen.


4.

Mit dem grossen Arbeitsangebot gehen die enorm tiefen Preise und Löhne einher. Hier ist Indien als Produktionsland Europa um Längen überlegen. Die Preisdifferenz zwischen Indien und den USA oder Europa begünstigt die Investitionen in Indien. Für lokale, nicht exportorientierte Unternehmen ist Indien ebenfalls attraktiv, weil durch seine Grösse und Diversität praktisch jedes Produkt einen lohnenden Absatzmarkt findet.


5.

Möglicherweise führt die in interkulturellen Modellen oft erwähnte Machtdistanz zwischen Management und Mitarbeitenden dazu, dass sich in vielen Organisationen die Mitarbeitenden nicht wahrgenommen, nicht geschätzt und sich nicht respektiert fühlen. In meinem halben Jahr bin ich auch solchen Menschen begegnet. Sie sind demotiviert oder haben innerlich gekündigt. Der Wandel von einer Command-Control-Führung zu einer Kultur der Motivation und Wertschätzung ist meinen Interviewpartnerinnen ein wichtiges Thema. Für viele Unternehmerinnen ist eine weitreichende flexible Arbeitsorganisation entscheidend, um ihre Mitarbeitenden zu behalten.


6.

In diesem Zusammenhang steht auch die Ambiguitätstoleranz: Ohne Planung funktioniert kein Unternehmen, doch sind Planänderungen rasch und zielführend zu integrieren. Das Streben nach Erfolg und Zufriedenstellen der Geldgebenden ist wichtig, gleichzeitig sind die Eigen-Sinnigkeiten der Mitarbeitenden zu berücksichtigen und produktiv zu nutzen, Unternehmertum macht süchtig (Tanul), doch ist auch hier die Abhängigkeit gesundheitsschädigend.


7.

Spiritualität und Religiosität sind allgegenwärtig. Tempel und andere religiöse Stätten sind beliebte Ausflugsziele für alle Generationen. Möglicherweise entsteht daraus eine selbstverständliche Zuversicht, dass alles schon irgendwie so kommt wie es soll.



Wie oben gezeigt, sind in Indien viele Voraussetzungen für Innovationen und Unternehmensgründungen günstig. Doch nicht die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, sondern die psychologischen Faktoren werden den entscheidenden Unterschied machen, ob ein indisches Unternehmen über längere Zeit erfolgreich sein wird oder nicht.


Nach zwei prall gefüllten Wochen mit vielen Begegnungen, Interviews, Firmenbesuchen und spannenden Kongressen verlasse ich das Swissnex-Team wieder. Ich habe mich dort mit den Menschen sehr wohlgefühlt und wäre gerne noch länger geblieben. Thank you so much!






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1 ความคิดเห็น


lavabue
02 ก.ค. 2566

Liebe Elisa

Ich habe dein Bericht mit grosser Interesse gelesen.


Freeda's Satz, dass das Bild von den Personen und den Backwaren süss zu sein haben hat mich echt erstaunt und höre dies zum ersten mal. Hmmm…


Schön hat es dir so gut gefallen. Du bringst viel Erfahrung und Wissen nach Hause.


Liebe Grüsse

Eliana

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